Das Gärtnern auf Brachflächen und in Baulücken war einst eine Praxis von
Unangepassten, die nicht lange um Erlaubnis fragten. Heute ist das „Wilde Gärtnern“ zum „Urban Gardening“ geworden. Es wird vor allem von Bewohnern bürgerlicher Stadtvierteln betrieben – wohlgelitten und mit tatkräftiger Unterstützung der Stadtverwaltung. Der Gedanke von „mehr Grün in der Stadt“ lässt sich aber auch auf Balkonen und Dachterrassen verwirklichen.
Der Leipziger Arzt Daniel Gottlob Moritz Schreber (1808–1861) beklagte seinerzeit die schlechte körperliche Entwicklung vieler Schulkinder. Er empfahl viel Bewegung und frische Luft. Die ersten so genannten Schrebergärten entstanden allerdings erst nach seinem Tod. Auf dem nach Schreber benannten Schreberplatz in Leipzig errichtete der Pädagoge Karl Gesell kleine Gemüse- und Blumenbeete, die von Kindern gepflegt wurden. Nach und nach wurden die Beete von Erwachsenen übernommen, die sie parzellierten und einzäunten: die so genannten Schrebergärten. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstanden in Wien und in Graz die ersten Kleingartenvereine nach diesem Vorbild.
Geboren aus der Not, gekommen um zu bleiben
Bis in die 1950er Jahre hinein waren Schrebergärten ein wichtiger Beitrag für die Lebensmittelversorgung der ärmeren Schichten. Mit dem „Wirtschaftswunder“ verloren Kleingärten diese Funktion fast völlig. Kleingärten wurden zum privaten Erholungsraum, auf dem auch ein bisschen gegärtnert wurde. Die Geräteschuppen in den Gärten wurden zu Hütten, und die Hütten wurden zu kleinen Häusern, die heute ganzjährig bewohnt werden.
Doch das Gärtnern in der Stadt kam wieder. Zuerst illegal. Die so genannten Guerilla-Gärtner begrünten Brachflächen und ließen am Straßenrand Blumen wachsen. Gärten wurden angelegt, wo eigentlich keine Gärten vorgesehen waren: in Baulücken, in Innenhöfen, auf Baumscheiben und sogar in ausrangierten Autos auf Parkplätzen.
Dieses „Wilde Gärtnern“ war streng genommen eine Straftat. Aber die Stadtverwaltung sah bald, dass damit eigentlich kein Schaden angerichtet wurde. Im Gegenteil: Die bunten, begrünten Flächen verschönerten Straßenzügen – und ersparten der Stadtverwaltung das Geld für die Anlage und die Pflege von Blumenrabatten. Die Bewohner der Straßen trafen sich zum gemeinsamen Gärtnern – oder auch nur, um im Garten zu tratschen – das hob den Zusammenhalt der Bewohner und führte in Folge zu einer Aufwertung der Wohngegend – durchaus auch in gutbürgerlichen Quartieren.
Baumscheibe und Nachbarschaftsgarten
Das Guerilla-Gardening ist heuet vielerorts in legale Bahnen gelenkt. Das neue Schlagwort heißt „Urban Gardening“. Das Prinzip: Die Gemeinde – oder auch private Eigentümer – stellen Flächen zur Verfügung, auf denen private Initiativen nach eigenen Vorstellungen gärtnern. Das kann viele Formen annehmen: Geschäftsleute verwandeln die Baumscheiben vor ihren Lokalen in bunte Blumenbeete; Anrainer bepflanzen Grünstreifen ihrer Gasse mit Stauden, Sträuchern und kleinen Bäumen und machen die ehemaligen „Hundeklos“ zu attraktiven Aufenthaltsräumen; Baulücken werden zu Nachbarschaftsgärten, wo Gemüsebeete angelegt und Hochbeete gezimmert werden, es wird gesät, bewässert und geerntet. Selbst auf Friedhöfen sind mittlerwei
Urban-Gardening-Beete zu finden.
Diese grünen Oasen mitten in der Stadt heben die Lebensqualität der Anrainer. Aber nicht nur das: Pflanzen und Grünräume sind wichtige Regulatoren des Stadtklimas, mildern sommerliche Hitze, reinigen die Luft und sorgen für einen besseren Luftaustausch mit dem Umland. Sie sind auch wichtig für Vögel und Insekten. Als ökologische „Trittsteine“ geben sie ihnen Nahrung und Nistmöglichkeiten und ermöglichen ihnen, sich in der Stadt auszubreiten und zu leben.
Balkon: Salat statt Geranien
Urban Gardening wird nicht nur im öffentlichen Raum betrieben. Auch auf Balkonen, Veranden und Dachterrassen in der Stadt und sogar auf dem Fensterbrett werden von Hobbygärtnerinnen und ‑gärtnern Obst, Gemüse und Blumen gepflanzt oder zumindest Kräuterbeete angelegt. Wegen der beengten Verhältnisse auf Balkonen ist Kreativität gefragt. Gepflanzt wird in Balkonkästen, in Pflanztrögen und Kübeln. Wo es möglich ist, wird auch die Vertikale mit einbezogen: mit Rankgittern, Spalieren oder Pflanztaschen. Vielfalt ist wichtiger als Monokultur: Verschiedene Gemüsepflanzen, Kräuter und Blumen in enger Nachbarschaft sehen nicht nur hübsch aus, sie sorgen auch dafür, dass man die ganze Vegetationsperiode über etwas zu sehen, zu riechen und zu schmecken hat.
Attraktiv sind blühende Gemüsepflanzen wie Feuerbohnen, Artischocken oder Kürbis, kombiniert mit farbigem Gemüse wie verschiedene Kohl- und Blattsalatsorten neben aromatischen Kräutern wie Rosmarin, Basilikum und Minze und essbaren Blüten wie Kapuzinerkresse oder Ringelblume.
Seerosen auf dem Dach
Dachterrassen bieten wieder andere Möglichkeiten. Hier lassen sich auch großzügigere Hochbeete aufstellen, oder Holzbottiche als „Seerosenteiche“. Selbst Rasen ist möglich: Ein Rollrasen auf entsprechendem Untergrund sorgt für einen Hauch englischen Landlebens. Zu bedenken ist hierbei zweierlei: Dachterrassen sind nicht unbegrenzt belastbar. Größere Erdschüttungen oder aufwändige Aufbauten können zum statischen Problem werden. Zum anderen muss dafür gesorgt werden, dass überschüssiges Wasser nach üppigem Gießen oder nach Regenfällen abfließen kann.
Nicht zu vernachlässigen ist auch die Orientierung bzw. der Lichteinfall. Balkone oder Terrassen, die so gut wie kein Sonnenlicht abbekommen, sind für den Gemüseanbau ungeeignet. Vielleicht gedeiht die eine oder andere Cocktailtomate dort, vielleicht wird sie sogar reif – aber ein Biss in die geerntete Frucht nach Wochen der Pflege ist meist enttäuschend. Auf der anderen Seite ist volle Sonneneinstrahlung für viele Pflanzen nicht optimal – sie leiden unter der starken Mittagssonne, mögen aber vielleicht Morgen- und Abendsonne. Deswegen kann es sinnvoll sein, Pflanzen – auch sonnenliebende – über Mittag zu beschatten, damit sie nicht die volle Hitze abbekommen.
Der Pflanzenauswahl und der Zusammensetzung der Pflanzen (nicht jede Art verträgt sich mit jeder anderen) sollte sorgsam bedacht sein; doch gerade das macht den Reiz des Gärtnerns auf kleinem Raum aus: planen, ausprobieren und experimentieren. Natur in die Stadt bringen, das heißt auch: das Unplanbare und Wilde zulassen.